top of page

Hat der Gotthard-Basistunnel die Relevanz verloren?


Erstaunlich ist, wie in einer vermeintlich datengeschützten Welt Vorgänge, die von
geringem öffentlichem Interesse sind und eigentlich der Privatsphäre zugerechnet
werden müssten, über Wochen die Schlagzeilen beherrschen, während die
Entgleisung eines Güterzuges im Gotthard-Basistunnel als journalistisch irrelevant,
politisch inexistent und für die Öffentlichkeit bedeutungslos behandelt wird, obwohl
der Zug immer noch im Tunnel steckt und der wichtigste Ast der Nord-Süd-
Alpentransversale für zwei Wochen für den Gütertransport gesperrt war und auf viele
Monate hinaus für den Personenverkehr blockiert bleibt.

 

Bei einer Geschwindigkeit von 100 km/h sprang die Achse eines Güterwagens etwa
sieben Kilometer vor der Multifunktionsstelle (MFS) Faido aus den Schienen.
Schwellen und andere Infrastrukturelemente wurden auf der ganzen Strecke stark
beschädigt. Auf der Weiche zur Oströhre trennte sich der Zug und dessen zweiter Teil
donnerte in das das geschlossene Spurwechseltor, das durch die Wucht des Aufpralls
zerstört wurde. 23 Güterwagen entgleisten dabei. Personenschäden sind
glücklicherweise nicht zu beklagen und Folgeunfälle konnten vermieden werden.
Die Katastrophe ist gross genug. Warum sie von einer unbekannten Regie
heruntergespielt wird, bleibt momentan unerfindlich. Im vier Stunden später
veröffentlichen Communiqué war von der Entgleisung eines Güterzugwagens die
Rede. Die Schweizerische Sicherheitsuntersuchungsstelle (SUST) sei aufgeboten
worden. Fachleute der SBB untersuchten zur Stunde die Schadenstelle. So wie die
Verantwortlichkeiten gelagert sein könnten, war es möglicherweise nicht angezeigt,
dass Fachpersonen einer für die Haftung in Frage kommenden Gesellschaft ohne
Begleitung der SUST vor Ort Untersuchungen anstellten. Wenn die SUST nicht über
einen jederzeit disponiblen Pikettdienst verfügt, so ist ein solcher zu schaffen. – Der
Unterbruch im Tunnel dauere mindestens bis zum Betriebsschluss des Folgetages,
zeigten die Bundesbahnen an, wobei ganz besonders bei einer solchen Betriebslage
nicht evident ist, wann bei einem Bahnunternehmen Betriebsschluss sein sollte und
könnte. Um 22 Uhr am Unfalltag kommunizierte die SBB, „aufgrund der Entgleisung
eines Güterzugwagens“ bleibe der Tunnel bis mindestens 16. August 24.00 Uhr,
gesperrt; die Kantonspolizei Tessin teile mit, bei der Entgleisung sei niemand verletzt
worden und kein Gefahrengut sei ausgetreten.

 

Wenn die Polizei ernsthaft bestätigen konnte, dass Gefahrengut nicht ausgetreten sei,
so hatte sie zu diesem Zeitpunkt die ganze Zugslänge mit Scheinwerfern
abgeschritten. Über die Dimension des angerichteten Schadens und des
Beseitigungsaufwandes konnte behördlicherseits kein Zweifel mehr bestehen. Der
Öffentlichkeit gegenüber von der „Entgleisung eines Wagens“, der übrigens total
zerstört worden war, zu reden, war ungehörig. Erst 25 Stunden nach dem
Unfallereignis war die Rede von der „Entgleisung eines Güterzuges“. Man war
sichtlich bemüht, die Folgen herunterzuspielen, was kommerziell verständlich sein
mag, im Hinblick auf die zentrale politische, internationale und volkswirtschaftliche
Bedeutung des Basistunnels aber nicht haltbar war. Der Basistunnel hat noch
gewichtigere Partner als die SBB sie hat, weshalb das Schweigen der Behörden
unverständlich ist. – Am 15. August hätte um 0.00 Uhr der Güterverkehr wieder
aufgenommen werden müssen. Sieben Stunden vorher teilten die SBB mit, zum
Schutz der Einsatzkräfte müsse auch die vom Unfall nicht betroffene östliche
Tunnelröhre zwecks Trennung der Luftzirkulation unbefahren bleiben. Über die
physikalischen Gegebenheiten und Zusammenhänge hätten Aufsichts- und
Untersuchungsbehörden und die Betriebsgesellschaft längst informieren können.
Tags darauf hielt der CEO der SBB eine Pressekonferenz ab. Das zeigt, dass man sich
auf der Ebene der Betriebsgesellschaft betriebliche Sorgen macht, denn die
betrieblichen Störungen und das sich daraus ergebende gestörte Kundenverhältnis
sind augenfällig und virulent. Die strategischen Rückschlüsse müssten bei solcher
durch die Exekutive vorgenommenen Dispensierung der Verwaltungsrat ziehen. Es
ist zu hoffen, dass er es tut. Zu hören bekam man nichts. «Der Gotthard-Basistunnel
gehört zu den sichersten der Welt. Dass trotzdem ein solcher Unfall geschehen
konnte, trifft uns sehr,“ sagte der SBB-CEO. Bei 17 Jahren Bauzeit und
12‘200‘000‘000 (12,2 Mia) CHF Baukosten haben die Bevölkerung der
Schweizerischen Eidgenossenschaft sowie die, die mit ihr Steuern und Abgaben
leisten, und jene, die im nahen oder ferneren Ausland der Schweiz vertrauen, nie
etwas anderes erwartet, als Höchstsicherheit. Andererseits haben sie den Eintritt
eines solchen Unfalls mutmasslich banaler Ursache sich nicht vorstellen können.
Dass die Betriebsgesellschaft Empathie für ihre Kunden empfindet, versteht sich. Viel
wichtiger noch ist die Aufzählung der Massnahmen, die ergriffen werden, um
Ähnliches auszuschliessen. Der Rückgewinnung des Vertrauens hätte auch eine
proaktive Informationspolitik gedient.

​

Es wäre an denen, die sich als Vertreter der Eigentümer und Investoren gerieren und
an jenen, die es rechtlich sind, sich Überlegungen zu machen und daraus
Konklusionen zu fassen. “Aussitzen“ ist eine viel gehandhabte Methode
schweizerischer Politik. Warum die Vierte Gewalt sich zur gleichen Passivität
ermächtigt sieht, bleibt unergründlich. Es geht nicht allein um die Einhaltung von
Fahrplänen. Es ist nicht einzig eine verkehrspolitische Frage. Wo sind die
Europapolitiker? Ist ihnen bewusst, dass dieser Basistunnel gewissermassen der
Nucleus der schweizerischen Existenz in Europa ist? Der Prestigeverlust, die
Beeinträchtigung der Verlässlichkeitseinschätzung sind schwerwiegend. An der
Vermeidbarkeit können nur Involvierte zweifeln.

 

Der Zug bestand, wie man nach sechs Tagen erfuhr, aus 30 Güterwagen. Er wurde in
Bellinzona zusammengestellt und die Wagen wurden kontrolliert. Er fuhr los und der
Lokomotivführer eines entgegenkommenden Zuges sah Rauchentwicklung. Der
Unglückszug hielt an und man löste das trotz vorausgehender Kontrolle bestehende
Problem eines Bremsklotzes. Die lange weitere Kontrolle förderte nichts Zusätzliches
an den Tag. Dennoch brach kurz darauf ein Rad. Also sind Organisation und
Methode der Kontrolle unzureichend. Unabhängig von Verschuldensfragen muss das
doch sofort geändert werden.

​

Es wird dargelegt, der Lokomotivführer habe keine Instrumente gehabt um den
Bruch eines Rades und die Entgleisung einer Achse festzustellen. Und dies über eine
Strecke von sieben Kilometern hinweg. Es wird von der Zugmaschine eine ungleich
grössere Leistung beansprucht, wenn das Rollmaterial nicht intakt ist, sondern sich
ein Rad in Trümmer auflöst, eine Achse entgleist und eine Vielzahl von Wagen aus
den Gleisen springt. Das ist mit grosser Wahrscheinlichkeit spürbar und die Mehrlast
an Instrumenten ablesbar. Warum bemüht man sich, die Schuld vorweg, noch vor
dem Untersuchungsergebnis, von möglichst vielen Schuldverdächtigen fernzuhalten?

 

Noch vor wenigen Wochen wollte man mit einer Tunnelgebühr den Autoverkehr auf
die Schiene bringen. Der Protest unserer Tessiner Miteidgenossen liess nicht auf sich
warten. Recht hatten sie. Es liegt auf der Hand, dass schon aus Gründen des
föderalen Zusammenhalts beide Verkehrswege – Schiene und Strasse – geöffnet sein
müssen. Ein Tunnel von 57 km Länge (Basistunnel) birgt namentlich bei Bergungen
und Instandstellungen ganz andere, vor allem zeitaufwändigere Probleme als eine
Röhre von 17 km (Strassentunnel). Der schwere Unfall mit den enormen
Schadenfolgen muss auch Anlass geben, die Nachhaltigkeit des Basistunnels und der
NEAT überhaupt in Bezug auf Bau, Betrieb und Unterhalt vorurteilsfrei
nachzurechnen.

​

Es ist Zeit, Ross und Reiter beim Namen zu benennen. Die bisherige Information in
kleinen Häppchen hinterlässt ein ungutes Gefühl. Die Erwartung, der
schwerwiegende Vorfall gerate bald in Vergessenheit, mag durchaus zutreffen; dem
Ernst, der Bedeutung und der Tragweite der Sache dient sie nicht.
Dem nützt auch die mit zweiwöchiger Verspätung erfolgte Verlautbarung des
Bundesamtes für Verkehr (BAV) nicht, es sei die SBB Cargo als Frachtführerin,
welche die Verantwortung trage, woran wohl kaum Zweifel bestehen können. Die
eigene Verantwortung als Aufsichtsbehörde wies das BAV aber weit von sich. Ein
Radbruch sei ein seltenes Unglück; der letzte sei vor zehn Jahren passiert. Er kommt
somit bekanntermassen vor. Was wird unternommen, dass er nicht wieder mitten in
rasender Fahrt geschieht und derart schwerwiegende Folgen nach sich zieht? Dem
müsste das vordringlichste und wichtigste Interesse gelten.


28. August 2023

bottom of page