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«Da stehe ich: Vor mir der offene Brustkorb. Das frische Herz, das nicht funktioniert»

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Thierry Carrel Der Herzchirurg redet über seinen abrupten Abgang beim Zürcher Unispital, Emotionen im Job, frustrierte Jungärztinnen und -ärzte und überrissene Erwartungen der Patienten.

 

Catherine Boss

Roland Gamp

(Interview) und

Silas Zindel

(Foto)

 

Sie sind seit 35 Jahren in der Herzchirurgie, waren bei über 12’000 Eingriffen dabei. Viele junge Medizinerinnen und Mediziner sind heute unzufrieden und steigen nach wenigen Jahren aus. Was sagen Sie dazu, Herr Carrel?

Ich kann das nicht ganz nachvollziehen, vor allem, wenn ich sehe, wie es vor 30 Jahren war und wie es heute ist.

Wie war es denn?

Heute arbeiten die Ärztinnen und Ärzte schon wegen des Arbeitsgesetzes deutlich weniger. Wir haben früher sicher 70 bis 80 Stunden gearbeitet, fast jede Woche. Und an Wochenenden flog ich schnell zu einem Kongress nach Amerika – schlief während des Rückflugs und war kurz nach der Landung wieder im Spital. Ich nahm selten mehr als vier Wochen Ferien pro Jahr.

Sie nehmen den jungen Ärztinnen und Ärzten die Überlastung also nicht ab?

Ich frage mich einfach, ob ein Teil dieser Unzufriedenheit nicht viel mehr daher kommt, dass die Leute heute viele nicht sehr interessante und nicht medizinische Aufgaben erledigen müssen. Sie haben im Studium vielleicht die Erwartung, sie könnten viel Zeit mit den Patienten verbringen oder im Operationssaal stehen. Stattdessen sitzen sie mehr als die Hälfte der Zeit im Büro, müssen sich mit Informatikproblemen herumschlagen, für eine einfache Patientenverlegung dreimal das Telefon in die Hand nehmen, unzählige Formulare für Kostengutsprachen bei den Krankenkassen ausfüllen. Wenn diese Ärztinnen und Ärzte aber eine spannende Aufgabe machen könnten – mit vielen Operationen und mit guter Betreuung von Chefinnen und Chefs, die sie unter ihre Fittiche nehmen –, dann würden sie sich vielleicht weniger beklagen.

Der Beruf muss wieder attraktiver werden. Laut einer Umfrage fehlen künftig bis zu 4000 Ärztinnen und Ärzte. Trotzdem beschränkt ein Numerus clausus den Zugang zu Studium. Sollte diese Hürde fallen?

Natürlich sollte sie das. Weil diese Prüfung überhaupt nichts darüber aussagt, wer ein guter Arzt, eine gute Ärztin sein wird. Bevor sich die Schweiz komplett abhängig macht von ausländischen Ärztinnen und Ärzten, sollte man dringend schauen, ob nicht unsere Kriterien für die Aufnahme eines Medizinstudiums zu streng oder schlichtweg falsch sind. Ich kenne viele junge Menschen, die unbedingt Medizin studieren wollten. Aber mit dem Numerus clausus werden bis zu 70 Prozent der Anwärter eliminiert. Und wenn ich als Klinikchef eine Stelle ausschrieb, fand ich häufig keinen einzigen Schweizer Kandidaten oder keine einzige Kandidatin. Wenn wir Mediziner beschäftigen, die nicht gut Deutsch sprechen und den Patienten vielleicht nicht richtig verstehen, ist das gefährlicher, als ab und zu einige Überstunden zu leisten.

Die Kosten im Gesundheitswesen steigen. Dazu tragen auch teure Herzkliniken bei. Obwohl die Kardiologie immer mehr Eingriffe übernimmt, werden neue Herzkliniken eröffnet, etwa in Genf und St.Gallen. Macht das Sinn?

Meine Erfahrung zeigt mir: Für eine gute Qualität müsste ein Team mindestens zwei Eingriffe pro Tag machen, also etwa 500 im Jahr. Heute wird diese Zahl vielerorts nicht erreicht.

Wie viele Herzkliniken liegen darunter?

Von den 17 Herzkliniken machen 12 sicher weniger als 500 Herzoperationen pro Jahr. Also nur 5 haben genug Patientinnen und Patienten. Es fehlt der politische Wille, neue Zentren zu verhindern und Kooperationen anzustreben – mit gemeinsamen Ausbildungs- und Forschungszentren über die Kantonsgrenzen hinweg.

Treiben auch die Patientinnen und Patienten die Kosten in die Höhe?

Natürlich nicht nur, aber wir haben im Gesundheitswesen einen zu hohen Konsum. Manchmal sehe ich am Morgen bei der Permanence am Bahnhof, wie viele Menschen um 7.30 Uhr auf der Wartebank sitzen. Ich glaube nicht, dass alle wirklich so krank sind: Vielleicht sind sie unzufrieden mit dem Job, vielleicht haben sie schlecht geschlafen, womöglich haben sie Kopfschmerzen. Sie warten eine Stunde, fehlen bei der Arbeit, erhalten ein Medikament, das kostet. Die Erwartungen an das Gesundheitssystem sind heute riesig. Ich habe selber Bekannte, die gleichzeitig bei bis zu sechs Ärzten sind.

Was soll dagegen geschehen?

Es braucht bei einer derartigen Anspruchshaltung der Bevölkerung bessere Kontrollen. Bis zur Umsetzung des elektronischen Patientendossiers dauert es noch. Aber man könnte schon jetzt jedem Patienten, jeder Patientin eine Karte geben im Format einer Kreditkarte. Darauf wäre jede Konsultation, Untersuchung und Medikation eingetragen. Es braucht einen Überblick. Denn es gibt Leute, die unser System ausreizen.

Wenn wir von Kosten reden, muss man auch die Löhne der Mediziner anschauen.

Chirurgen verdienen viel, Hausärztinnen oder Kinderärzte weniger. Muss sich das ändern?

Herr Bundesrat Berset hat immer gesagt, er wolle umlagern, aber es handelt sich dabei offensichtlich um ein schwieriges Unterfangen. Da gibt es sicher noch Luft nach oben. Aber noch etwas treibt die Kosten in die Höhe.

Was denn?

Ich habe Mühe mit zum Teil horrenden Preisen für gewisse Medizinprodukte und mit unterschiedlichen Tarifen für den gleichen Eingriff. Es gibt Kassen, die bezahlen für eine bestimmte Herzoperation rund doppelt so viel Honorar in Zürich als in Bern oder Lausanne. Es gibt gar keine Begründung dafür.

In der Medizin geht es nicht nur um Geld, sondern auch um Emotionen. Wann gab es für Sie starke Gefühle?

Es gab manche Abende, da sagte ich mir: «Morgen, puh …, da bin ich dann froh, wenn der Tag vorbei ist.» Es ist wie beim Erklimmen der Eigernordwand, und man weiss: Wenn ich morgen in die Wand steige, könnte das Wetter ganz schlecht sein. Aber ich kann es nicht verschieben. Und es gibt keinen anderen Chirurgen, der diese Operation durchführen will. Der Patient wird morgen vor mir liegen. Also muss ich mir am Abend vorher überlegen, wie ich mich optimal vorbereite, um möglichst viel Sicherheit zu haben. Dann schaue ich in Bücher oder ins Internet und gehe die Operation von A bis Z nochmals durch.

Können Sie uns einen solchen Fall beschreiben?

Wir hatten mal eine sehr junge Patientin, bei der wir innerhalb von 48 Stunden zweimal das Herz transplantierten. Das erste kam aus einer anderen Klinik, es gab eine kurze OP. Am Ende des Eingriffs blieb das Spenderherz einfach stehen. Alle fragten: Wer hat das Herz entnommen? Wie wurde es überprüft? Aber man fand nichts. Niemand konnte das erklären. Das Herz schlug kräftig beim Spender. Drei Stunden später bei der Empfängerin machte es keinen Wank mehr. Das Mädchen musste ans Kunstherz. Da stehe ich also: Vor mir das frische Herz, das nicht funktioniert. Der offene Brustkorb. Das Kunstherz.

Was machten Sie da?

Ich rief persönlich den Chef von Swisstransplant an und bat ihn eindringlich, das nächste verfügbare Herz für dieses Mädchen freizugeben. Und das Glück wollte es, dass wir innert 48 Stunden ein zweites fanden. Dann mussten wir das erste Herz samt Kunstherz ausbauen und das dritte einsetzen. (Pause) Da sind wir – ohne zu schlafen – 36 Stunden dran gewesen.

Herzoperationen an Kindern sind technisch herausfordernd. Sind sie auch emotional besonders schwierig?

Für mich war es am schwierigsten, wenn die Kinder im Alter meiner Tochter waren. Als sie sechs Monate alt war und ich ein Gleichaltriges operieren musste, war es manchmal schlimm. Ich sah die Eltern und dachte: «Ich habe so ein Glück. Meine Tochter ist gesund. Und sie müssen durch diese Angst, diese Ungewissheit.» Ich musste einmal einen Schulfreund von ihr wegen eines Herzfehlers zum wiederholten Mal operieren. Beim letzten Eingriff wusste die ganze Klasse davon. Um 7.45 Uhr rief meine 11-jährige Tochter an und sagte: «Weisst du, wir haben mit der Klasse noch für ihn gebetet.» Mir hat es fast die Beine weggezogen. Ich bin sonst nicht einer, der schnell Tränen in den Augen hat. Da wusste die ganze Klasse, dass ich operiere. Der Stuhl des Schülers blieb leer, weil er bei mir im Operationssaal lag. Zum Glück ging es gut.

Und wenn ein Patient stirbt?

Wenn Sie aus dem Operationssaal kommen und jemanden verloren haben, sitzen vielleicht die Verwandten vor dem Eingang zum Operationstrakt. Daran können Sie nicht einfach vorbeigehen. Sie sind erschöpft, aber Sie müssen diese Angehörigen ins Büro nehmen und über das Problem reden. Das braucht sehr viel Kraft, Zeit und Erfahrung.

In den letzten zwei Jahren halfen Sie dabei, die Herzklinik am Zürcher Unispital aus Schwierigkeiten zu retten. Trotzdem wurden Sie von der Spitalleitung im November Knall auf Fall aufgefordert, zu gehen. Weil ohne genügende Übergangsfrist ein neuer Chef eingesetzt wurde. Wie geht es Ihnen damit?

Ich bin persönlich schon enttäuscht, wie es am Zürcher Unispital zu Ende gegangen ist. Auch viele meiner Kollegen und Kolleginnen waren sehr irritiert. Einige Patientinnen und Patienten waren konsterniert, dass Behandlungen oder Eingriffe nicht wie zuvor geplant durchgeführt werden konnten. Es fanden sich jedoch gute Lösungen, das war mir ein sehr wichtiges Anliegen.

«Wir haben im Gesundheitswesen einen zu hohen Konsum», sagt Thierry Carrel.

«Wenn Ärztinnen und Ärzte eine spannende Aufgabe machen könnten, würden sie sich weniger beklagen.»

Der bekannteste Herzchirurg der Schweiz

Der gebürtige Freiburger und Universitätsprofessor Thierry Carrel (62) leitete von 1999 bis 2020 die Klinik für Herz und Gefässchirurgie des Inselspitals in Bern und wechselte 2021 bis 2022 ans Universitätsspital Zürich. Im November 2022 hat er – zusammen mit Klinikleiter Paul Vogt – das Unispital verlassen, da ein neuer Chef gewählt wurde. Carrel leitete viele Herztransplantationen. Er behandelte 2008 Bundesrat Hans-Rudolf Merz, dem er mehrere Bypässe setzte. (cbm/rog)

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